Deutschland und die Zeitenwende
Strukturwandel fördern, nicht verhindern!

Die Welt scheint aus den Fugen: Schon die Corona-Krise hat viele Unternehmen stark gebeutelt, in deren Folge kam es dann zum Zusammenbruch bisher als stabil geltender globaler Lieferketten, und seit dem Februar diesen Jahres führen auch noch der Ukraine-Krieg und der damit einhergehende Wirtschaftskrieg Russlands gegen den Westen zu massiven Verwerfungen. Viele Betriebe sind jetzt mit stark steigenden Kosten insbesondere für Energie konfrontiert. Während die Corona-Krise allmählich überstanden scheint und auch die Lieferkettenprobleme zum größten Teil auf temporäre Sonderfaktoren zurückzuführen sind, muss man davon ausgehen, dass die Zeiten niedriger Preise für Erdöl und Erdgas nicht nur in Deutschland dauerhaft vorüber sind. Die von Deutschland und der EU vorangetriebene Ablösung von Rohstoffimporten aus Russland wird nur möglich sein, wenn andere Lieferanten einspringen – aber das wird auf jeden Fall teurer als bisher, denn sonst hätte man hierzulande ja auch schon in der Vergangenheit diese alternativen Bezugsquellen genutzt. Auch wenn der Anstieg der Energiepreise wegen der bestehenden Unsicherheiten über die künftige Versorgungslage derzeit überzeichnet sein dürfte, muss man davon ausgehen, dass Energie nie wieder so billig sein wird wie ehedem.

Dass Energie mittelfristig teurer werden würde, war allerdings schon mit den Klimaschutzzielen der EU und der Bundesregierung angelegt. Neu ist insoweit nicht der Preisanstieg an sich, sondern nur das Tempo (und wohl auch das Ausmaß) der Preissteigerungen. Insoweit hat sich die zur Verfügung stehende Zeit für eine Anpassung an veränderte Preisstrukturen sich nunmehr deutlich reduziert. Alle Erfahrung zeigt, dass ein allmählicher Strukturwandel weitaus leichter zu bewältigen ist als ein plötzlicher Strukturumbruch, und dies erklärt wohl auch das hektische Suchen der Politik nach kurzfristigen Entlastungen nicht nur für die privaten Haushalte, sondern auch für die Unternehmen.

Die sprunghaft gestiegenen Energiepreise bedeuten in ihrer Konsequenz, dass das Geschäftsmodell vieler Unternehmen plötzlich und unvorhergesehen in Gefahr geraten ist. Dieses beruhte in seinem Kern nämlich häufig darauf, hohe Arbeitskosten in Deutschland durch einen intensiven Einsatz von Sachkapital zu kompensieren. Maschinen und andere Ausrüstungsgüter funktionieren aber nur, wenn ausreichend viel Energie (Elektrizität, Gas oder Benzin) zur Verfügung steht, und die bisher angewandten Produktionstechnologien (also das Einsatzverhältnis von Sachkapital und anderen Produktionsfaktoren) wiederum setzen bestimmte Faktorpreisverhältnisse voraus. Die Energiepreissteigerungen drohen insoweit also nicht nur solche Unternehmen unrentabel zu machen, die fossile Energieträger als Rohstoff direkt in der Produktion einsetzen (wie zum Beispiel die Chemieindustrie), sondern sie tragen auch zu einer Entwertung des Kapitalstocks in vielen anderen Produktionsbereichen bei. Betroffen sind dabei naturgemäß vor allem jene Wirtschaftszweige, die viel Energie einsetzen. Dies sind – ausweislich der amtlichen Input-Output-Tabellen – nicht nur Branchen des Verarbeitenden Gewerbes, sondern auch der Verkehrssektor, der Einzelhandel oder das Gastgewerbe. Damit drohen Produktionseinschränkungen oder gar Unternehmensaufgaben in sehr vielen Wirtschaftszweigen. Das wiederum könnte sehr umfassend die Wertschöpfungsketten in Deutschland negativ beeinflussen.

Natürlich kann ein einzelnes Unternehmen versuchen, die steigenden Kosten durch Erhöhung der Absatzpreise zu kompensieren. Aber fraglich ist, ob diese Strategie in der Breite trägt: Bei international gehandelten Gütern sind die Preiserhöhungsspielräume begrenzt, weil damit ein Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gegenüber konkurrierenden Anbietern aus dem Ausland einhergeht, sofern diese nicht in gleichem Maße von steigenden Energiepreisen betroffen sind. Bei nur regional gehandelten Gütern ist dies zwar nicht der Fall, doch können auch hier die Preise nicht beliebig erhöht werden, unter anderem wegen der Wettbewerbssituation auf den jeweiligen Märkten und – gesamtwirtschaftlich – weil die Kaufkraft der privaten Haushalte aufgrund des Energiepreisanstiegs deutlich zurückgegangen ist. Und in ihrer Gesamtheit werden die Unternehmen wohl auch die Preise nicht in erforderlichem Ausmaß erhöhen können, weil das die Gewerkschaften dazu animieren dürfte, kaufkraftsichernde Löhne durchzusetzen – was den Kostendruck nochmals erhöhen würde.

Insoweit werden die Unternehmen versuchen müssen, die Art und Weise ihrer Produktion anzupassen, also mit einem geringeren Energieeinsatz[1] zu produzieren, um die Entwertung ihres Kapitalstocks zu verhindern. Dies kann über einen effizienteren Einsatz von Energie geschehen, oder auch durch Anpassungen der Produktionstechnologie.[2] Während ersteres vermutlich auch kurzfristig möglich ist, wenn auch nur mit begrenzter Wirkung, benötigt eine Umstellung der Produktionstechnologie mehr Zeit und ist zudem mit zusätzlichen Kosten verbunden. Für die Gesamtwirtschaft ist es darüber hinaus auch möglich, bestimmte (energieintensive) Vorleistungsgüter im eigenen Land gar nicht mehr zu produzieren, sondern sie aus dem Ausland kostengünstiger zu importieren.[3] Die Substitutionsmöglichkeiten sind daher in einer makroökonomischen Sichtweise deutlich höher als in einer einzelwirtschaftlichen Betrachtung.

Auch wenn in vielen Fällen zumindest mittelfristig eine Umstellung an die veränderten Preisrelationen erfolgen kann, werden wohl nicht alle Unternehmen diese Anpassung auch schaffen, weil es mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Diese Unternehmen werden also vom Markt verdrängt: Sei es über die „freiwillige“ Einstellung des Geschäftsbetriebs in der Erwartung fortlaufender Verluste oder über den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit, sei es über einen Rückgang der Nachfrage als Folge von Substitutionsprozessen seitens der Konsumenten oder verringerter gesamtwirtschaftlicher Kaufkraft. Zumindest für die „Grenzanbieter“, also jene, die schon jetzt nur mit Mühe am Markt überleben können, dürfte es daher schwierig werden. Dies bedeutet nicht, dass sich die Versorgungslage auf den entsprechenden Märkten verschlechtern wird (im Zweifel wird ausfallendes Angebot im Inland durch importiertes Angebot ersetzt), wohl aber, dass die heimische Produktion auf den betreffenden Märkten zurückgeht und dass die Nachfrager einen höheren Preis zu zahlen haben.

Derzeit überwiegt in vielen Unternehmen wohl noch die Hoffnung, dass die Krise nur vorübergehend ist und danach alles wieder so werden wird wie früher. Das könnte sich aber als Fehleinschätzung entpuppen. Manches spricht zwar dafür, dass die Energiepreise nicht dauerhaft auf dem aktuellen Niveau verharren werden: Mit dem weiteren Ausbau regenerativer Energien in Europa könnte der Bedarf an der Nutzung von (teuren) Gaskraftwerken sinken, vor allem dann, wenn es gelingt, leistungsfähige Speichertechnologien für Strom zu entwickeln; wenn die Förderung von Erdgas in Ländern außerhalb Russlands gesteigert wird, [4] wird es auch möglich sein, den Ausfall russischer Gasliefern zu kompensieren; wenn es gelingt, energieeffizientere Produktionstechnologien einzuführen, wird auch die Energienachfrage insgesamt sinken. Aber all das ist nicht kurzfristig zu realisieren, und selbst dann werden die Energiepreise zukünftig eher höher sein als in der Vergangenheit, weil dann eben teurere Quellen genutzt werden müssen. Wenn dies zutrifft, so ändert dies nichts an der grundsätzlichen Notwendigkeit zur Anpassung von Produktionstechnologien oder -strukturen, sondern nur am Ausmaß und der Geschwindigkeit der Anpassungsnotwendigkeiten.

Manch ein Unternehmen hofft zudem wohl auch, dass der Staat mit Überbrückungshilfen in Form von Liquiditätszuschüssen, mit staatlich gedeckelten Energiepreisen oder mit der Gewährung von Kurzarbeitergeld die Krise abzufedern hilft; die Politik schürt diese Hoffnungen gerade auch. Aber Überbrückungshilfen der genannten Art sind eben nur dann sinnvoll, wenn davon ausgegangen werden kann, dass es sich um eine temporäre Krise handelt und die Unternehmen danach auch wieder aus eigener Kraft agieren können. Wenn hingegen davon ausgegangen werden muss, dass die Energiepreise dauerhaft hoch bleiben, die Brücke also ins Nichts führt, sind solche staatliche Hilfen nichts anderes als Erhaltungssubventionen für Unternehmen, die langfristig nicht überleben können. Liquiditätshilfen, wie sie derzeit diskutiert werden, könnten deshalb für lange Zeit notwendig werden und damit nicht nur den Staat überfordern, sondern auch zur Konservierung überkommener Strukturen beitragen. Deswegen weist auch die Bundesregierung in ihren regelmäßigen Subventionsberichten[5]  ausdrücklich auf die problematischen Nebenwirkungen von Erhaltungssubventionen hin und hält diese höchstens zur vorübergehenden Abmilderung von Marktbereinigungsprozessen oder zur Vermeidung von negativen externen Effekten[6] für zulässig.

Und da der künftige Gleichgewichtspreis für Energie heute nicht bekannt ist, verbieten sich auch Lösungen wie ein Höchstpreis für Energie: Wenn er zu hoch ist, kann er Unternehmensschließungen nicht verhindern; wenn er zu niedrig ist, werden auch Unternehmen geschützt, die langfristig nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Abgesehen davon, sind Preiseingriffe auch ordnungspolitisch höchst bedenklich und direkten Transfers immer unterlegen.

Sinnvoll erscheinen vor diesem Hintergrund allein Hilfen, die die Unternehmen bei ihrer Anpassung an höhere Energiepreise unterstützen. Diese können zum Beispiel als Investitionshilfen für die Umstellung auf eine energiesparende Produktionstechnologie ausgestaltet werden. Da auf mittlere Sicht die Energiepreise wegen der ambitionierten und seit langem in Gesetzesform fixierten Klimaschutzziele aber ohnehin gestiegen wären und dies den Unternehmen auch bekannt ist, wären diese so auszugestalten, dass damit nur die beschleunigte Anpassung unterstützt würde. Ansonsten würden nämlich nur ohnehin erforderliche bzw. geplante Maßnahmen subventioniert, was man wohl als Mitnahmeeffekt einzuordnen hätte. Insoweit sind auch nicht Zuschüsse, sondern Kredithilfen das Mittel der Wahl, auch um einen zusätzlichen Anreiz für erfolgversprechende Restrukturierungsmaßnahmen zu setzen. Die Erfahrung lehrt jedenfalls, dass Subventionszahlungen ohne strikte Konditionierung, zeitliche Begrenzung und/oder Rückzahlungsverpflichtungen eben keinen Anreiz für eine Anpassung setzen, sondern den Wettbewerb verzerren und im Zweifel lediglich einen allfälligen Marktaustritt hinauszögern.

Wenn die voranstehende Analyse zutrifft, steht Deutschland nicht nur vor einer letzten Endes vorübergehenden konjunkturellen Abschwächung, sondern vor einer dauerhaften Veränderung der bestehenden Produktionsstrukturen bzw. Produktionstechnologien. Problem ist dabei nicht so sehr der Strukturwandel an sich, sondern allein die Geschwindigkeit, in der sich dieser vollzieht. Das wird für diejenigen, die sich nicht rechtzeitig anpassen können, mit Härten verbunden sein. Aber auch wenn einzelne Unternehmen oder gar ganze Produktionszweige in Deutschland aufgegeben werden müssen, ist dies nicht der Weltuntergang, denn gerade dies eröffnet auch Chancen für die Entstehung neuer Produktionsstrukturen. Strukturwandel ist keine Einbahnstraße. In schrumpfenden Sektoren werden Löhne und Preise sinken, so dass hierdurch Ressourcen freigesetzt werden, die anderweitig besser einzusetzen sind. Und selbst wenn es an dieser Stelle zynisch klingen mag, wird damit auch ein Beitrag zur Linderung des demographisch bedingten Arbeitskräftemangels geleistet, der auf mittlere Sicht ohnehin die Wachstumsperspektiven in Deutschland gedämpft hätte. Gerade weil die Energiepreise wohl weltweit steigen werden und Deutschland als ein ressourcenarmes Land (komparative) Vorteile bei technologiegetriebenen Produktionen hat, besteht die Aussicht, mit der Entwicklung von innovativen Ersatzlösungen für energieintensive Produktionen neue Produktionslinien aufbauen kann, die auch dabei helfen, die Schrumpfung einzelner Produktionsbereiche auszugleichen. Falsch wäre es nur, wenn man dies aus falsch verstandener Fürsorge für die vom Strukturwandel negativ betroffenen Bereiche ungewollt unterbinden würde. Denn auch das Geld, was hierfür aufgebracht werden muss, fehlt dann an anderer Stelle.

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[1] Denkbar ist auch der Einsatz anderer, relativ billigerer Energieträger; allerdings dürfte auch dies in der Regel Anpassungen der Produktionstechnologie erfordern.

[2] Siehe dazu die Sammlung von Beispielen durch Ben Moll, https://mobile.twitter.com/ben_moll/status/1555468515448164352.

[3] Vgl. Ben Moll, Supplement to “What If? …”: Real-World Examples of Substitution

and Substitution in the Macroeconomy, https://benjaminmoll.com/RussianGas_Substitution/

[4] Die aktuellen Bestrebungen Deutschlands, durch Bau von LNG-Terminals vermehrt Gas aus anderen Teilen der Welt in Deutschland verfügbar zu machen, wirken sich wegen des EU-weiten Gasverbunds nur dann preisdämpfend aus, wenn dadurch insgesamt mehr Gas nach Europa geliefert würde (statt dadurch Gaslieferungen an andere europäische Länder lediglich umzuleiten). Der Engpass dürfte insoweit weniger bei den LNG-Terminals als vielmehr bei fehlenden Tankschiffen zu liegen.

[5] Vgl. Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen für die Jahre 2017 bis 2020 (27. Subventionsbericht), S. 9.

[6] Beispielsweise bei „systemrelevanten“ Produktionen. Dies wäre unter Umständen der Fall, wenn der Ausfall oder die Verteuerung von Energie und anderen Vorleistungen zu nicht kompensierbaren Produktionseinschränkungen entlang der Wertschöpfungskette führen würde. Der Begriff der Systemrelevanz ist aber eher eng auszulegen, weil man in vielen Fällen Versorgungsengpässe durch Importe ausgleichen kann.

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (2017): Strukturwandel (1). Schöpferische Zerstörung überrall!? Treiber, Optionen und Populisten

Norbert Berthold (2017): Strukturwandel (2). Das Ende des Wettbewerbs? “Super-Firmen”, Marktmacht und Ungleichheit

Norbert Berthold (2020): Überlebt das „Geschäftsmodell Deutschland“ die Seuche? Struktureller Wandel, süddeutscher Rostgürtel und private Unternehmer

Norbert Berthold (2020): Strukturwandel, Organisationsgrade und Tarifverträge. Sind betriebliche Bündnisse für Arbeit die tarifpolitische Zukunft?

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